Zug der Erinnerung
Ein Projekt deutscher Bürgerinitiativen
In Kooperation mit:
An drei Tagen stand der "Zug der Erinnerung" Landau. Wir sprachen mit dem lokalen Koordinator der Landauer Aktivitäten, Martin Layes, der Geschichts- und Religionslehrer an einem Landauer Gymnasium ist
Zug der Erinnerung (ZdE): Warum engagieren Sie sich für den Zugaufenthalt?
Martin Layes: Zuerst einmal engagiere ich mich für Menschen, die aus den Orten ihrer Kindheit und Jugend herausgerissen wurden, die scheinbar keine Spuren hinterließen, so als ob sie in unserer Gegenwart als Geister herumspuken. Aber natürlich sind sie keine Geister und sie können ein Gesicht bekommen.
ZdE: Wo haben Sie diese Erfahrung gemacht?
Martin Layes: Ich habe einen Onkel, der im Krieg geblieben ist, dessen Soldatengrab wir nicht kennen und dessen Verschwinden in mir starke Gefühle auslöste als ich von meinem Vater davon erfuhr.
ZdE: : Halten Sie das für einen passenden Vergleich mit den Deportationsopfern, deren Verschwinden wir im "Zug der Erinnerung" beklagen?
Martin Layes: Ja und nein. Das Verschwinden der Opfer und das Verschwinden der Täter läßt sich nicht vergleichen. Aber die emotionalen Folgen in den Familien sind doch ähnlich...
ZdE: Würden Sie der Behauptung zustimmen, daß Ihr Onkel als Wehrmachtssoldat auch für die Verteidigung von Auschwitz kämpfte; daß er dafür kämpfte, die Todesmaschinen in Auschwitz solange zu halten wie sie gehalten wurden?
Martin Layes: Damit würde ich mich schwer tun....
ZdE: Hat er das denn nicht getan? Hat er nicht tatsächlich dazu beigetragen, die Verbrechen geschehen zu lassen?
Martin Layes: Subjektiv hat er wahrscheinlich nicht dazu beigetragen. Objektiv war er nicht in der Lage, einem mörderischen System die Stirn zu bieten. Insofern hat er dazu beigetragen. Er hat wahrscheinlich dasselbe gesehen, was auch mein Vater im Ostfeldzug gesehen hat: Kinder wurden ermordet, Dörfer wurden niedergebrannt. Ich denke, er konnte es nicht verhindern. Das Mindeste was man sagen kann und muss, ist: Er hat es nicht verhindert.)
ZdE: Wie sind Ihre Erfahrungen in der Schule?
Dieses Foto zeigt die zehnjährige Schülerin Barbara M. aus Frankfurt a.M., die 1938 einer "rassebiologischen Erfassung" unterzogen wurde.
Martin Layes: Wenn wir dort über die NS-Geschichte der eigenen Familien reden, ist eine hohe Spannung zu spüren. Man merkt höchste innere Widerstände, wenn ein Schüler sagt: Ja, mein Großvater war in der SS. Das erzeugt Scham und vielleicht auch Trotz. Wer es trotzdem ausspricht verdient Bestätigung: Es ist möglich, sich den Dingen zu stellen, es ist erwachsener.
ZdE: Diese familiären Knoten haben uns die Täter hinterlassen. Neunundneunzig Prozent aller Deutschen gehören zu den Nachfahren der Täter. Ist es möglich, daß wir uns wirklich den Opfern zuneigen?
Martin Layes: Das geht meines Erachtens nur, wenn wir einen persönlichen, emotionalen Zugang finden. Zur Zeit geschieht das in Landau in Vorbereitung auf den Zugaufenthalt und geschah bereits durch die Verlegung von Stolpersteinen. Eine ehemalige Kollegin hat Materialien über eine Landauer Familie gesammelt, die in der NS-Ära vertrieben worden ist und sich nach New Jersey retten konnte. Die Nachfahren dieser Opfer werden im November nach Landau kommen. Wenn es gelingt, die Perspektive der Opfer und ihrer Nachfahren einzunehmen, so ist dies ein entscheidendes Korrektiv zur emotionalen Verstrickung mit den Tätern. Unsere Mitmenschlichkeit kann daran wachsen.